Mirjam Karoly: Was wir fordern! „Opre Roma thaj Romnja“ – Reflexionen aus der österreichischen Roma-Bewegung[1]
1971 kamen in London RomavertreterInnen aus 14 Ländern Europas zum ersten Internationalen Roma-Kongress zusammen. Sie legten das Lied „Gelem, Gelem“ als gemeinsame Roma-Hymne fest und einigten sich auf eine Roma-Flagge, um gemeinsam für die Interessen und Rechte der Roma in Europa einzutreten. Einige Jahre später, 1978, ging aus dieser Initiative die International Romani Union hervor und der 8. April wurde zum Internationalen Roma-Tag erhoben.[2]Dieses Zusammentreffen schrieb damals nicht groß Geschichte, aber es markierte die Anfänge der internationalen politischen Selbstorganisation. In der Folge kam es zu einer Reihe von Initiativen und Vernetzungen von Roma auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene, die in den folgenden Jahrzehnten erfolgreich eine Öffentlichkeit für die Interessen der bis zu zwölf Millionen Angehörige zählenden – und damit größten Minderheit in Europa – erreichen konnten.
Ein Resultat der Arbeit vieler Roma-Frauen und -Männer und UnterstützerInnen ist unter anderem die Annahme des „EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma“ bis 2020 (EU-Rahmen für nationale Roma-Strategien) durch die EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2011, wie auch eine Reihe von anderen internationalen und europäischen Initiativen, die die Bekämpfung von Diskriminierung und die Chancengleichheit für Roma zum Ziel haben. Indien gilt zwar als Herkunfts- und somit ursprüngliches Heimatland der Roma, aber es agiert nicht als Schutzmacht für die Rechte der Roma auf internationaler oder bilateraler Ebene. Umso wichtiger ist die Verantwortung der einzelnen Nationalstaaten, in denen Roma seit Jahrhunderten beheimatet sind, und der Internationalen Gemeinschaft, die die Einhaltung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte beobachtet und überprüft.
Roma in Europa sind eine heterogene Ethnie, die sich aus einer Vielzahl verschiedener Roma-Gruppen zusammensetzt und unterschiedliche Selbstbezeichnungen verwendet (u.a. Arlija, Gurbet, Kaale, Kalderaš, Lovara, Manuš, Sepečides, Sinti etc.)[3], wobei sich viele auch als Roma bezeichnen. Sprache und Kultur der Roma-Gruppen sind weiters auch durch kultur-und länderspezifische Charakteristika bzw. regionale Eigenheiten geprägt. Gemeinsam blicken Roma europaweit auf eine jahrhundertelange Erfahrung von Ausgrenzung und staatlich legitimierter Verfolgung zurück, die in der Zeit des Nationalsozialismus im Völkermord gipfelte. Trotzdem konnten sie sich bis heute behaupten und haben ihre bis in die jüngste Vergangenheit nur mündlich überlieferte Sprache und Kultur bewahrt. Zudem haben Persönlichkeiten zum kulturellen und gesellschaftlichen Erbe Europas beigetragen und sind gemeinsam gegen anhaltende Diskriminierung und für die Durchsetzung ihrer BürgerInnenrechte eingetreten. Dabei verliefen die lokalen und nationalen Initiativen in den einzelnen Ländern scheinbar unabhängig voneinander, aber diese stehen insgesamt doch für eine Zeit des Aufbruchs und scheinen auch von allgemeineren geopolitischen Entwicklungen und überregionalen Prozessen beeinflusst worden zu sein.
Anfänge in Österreich
Als in Österreich 1976 das Volksgruppengesetz beschlossen wurde, sprach sich die juristische ExpertInnenmeinung gegen die Anerkennung der Roma als österreichische Minderheit aus, da sie, so die Annahme, als „Nomaden“ über kein angestammtes Heimatgebiet in Österreich verfügen.[4] Diese Einschätzung und damit die Verwehrung des Status einer österreichischen Volksgruppe als anerkannte Minderheit mit eigener Sprache und Kultur ging Hand in Hand mit einer lang anhaltenden Ausgrenzungspolitik gegenüber Roma in Österreich. Ihren radikalsten Ausdruck fand diese im nationalsozialistischen Völkermord an den Roma. Danach war die Politik der 2. Republik gekennzeichnet von mangelndem Unrechtsbewusstsein gegenüber den Roma-Opfern des Holocaust, von der Rehabilitation der TäterInnen sowie durch eine Kontinuität von Diskriminierung und Rassismus.
In Deutschland kam es erstmals 1982 zu einer offiziellen Anerkennung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Roma durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Maßgeblich beteiligt an dieser noch jungen BürgerInnenrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma waren die Brüder Vinzenz und Oskar Rose, beide Überlebende der NS-Verfolgung. 1982 mündete die Bewegung in der Gründung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma. Einen wichtigen Beitrag für die Diskussion zur Aufarbeitung von NS-Völkermord und Verfolgung lieferte auch die Sintizza Melanie Spitta, die sich als Bürgerrechtlerin und Filmemacherin in ihren Dokumentarfilmen mit dem Schicksal deutscher Sinti und Roma und verwehrter Wiedergutmachung auseinandersetzte.[5]
In Österreich, wo nur 10 Prozent der 1938 insgesamt 11.000 Personen zählenden Roma (vorwiegend Burgenland-Roma, aber auch eine kleinere Gruppe von Sinti und Lovara) überlebt hatten, stellte man Ende der 1980er Jahre ähnliche Forderungen. Wichtige Impulse kamen dabei von der nun einsetzenden historischen Aufarbeitung des NS-Völkermordes an den österreichischen Roma. Pionierarbeit dazu lieferte die Historikerin Erika Thurner mit ihrer Forschung zur NS-Verfolgung der Roma in Österreich Anfang der 1980er Jahre.[6] Aber auch WissenschafterInnen anderer Disziplinen begannen, die Geschichte und Kultur, einschließlich der reichen Musikkultur und Sprache der Roma, wissenschaftlich aufzuarbeiten.[7] Im Zuge dieser Entwicklung gingen nun erstmals auch Roma in Österreich mit ihren Lebensgeschichten an die Öffentlichkeit.
Vor allem die Veröffentlichung des Buches „Wir leben im Verborgenen“, in dem die Lovarkina und Auschwitz-Überlebende Ceija Stojka mit ihrer Geschichte vielen Roma eine Stimme gab, erreichte eine breite Öffentlichkeit. Weitere literarische Zeugnisse von Roma sollten bald folgen.
Ähnlich wie in Deutschland formierten sich die Forderungen um die Anerkennung und geschichtliche Aufarbeitung des NS-Völkermordes, um Gleichstellung mit anderen Holocaust-Opfern und um die Beendigung anhaltender Diskriminierung, die für viele Roma vor allem in der Schule und am Arbeitsplatz, aber auch in anderen Bereichen nach wie vor große Benachteiligung brachte. Im engen Austausch und unter Beteiligung von unterschiedlichen Roma-Gruppen – Frauen und Männer, VertreterInnen der jüngeren Generation (u.a. Susanne Baranayi und Emmerich Gärnter-Horvath in Oberwart) und engagierte WissenschaftlerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen im Burgenland, in Wien und in anderen, kleineren Städten – kam es schließlich Ende der 1980er Jahre zur ersten Selbstorganisation, um gemeinsame Ziele zu verfolgen und gegen Ungleichbehandlung aufzutreten. Im Jahr 1989 wurde schließlich im burgenländischen Oberwart der erste Romaverein gegründet, der Verein Roma Oberwart. Dass sich die Anfänge der österreichischen Roma-Bewegung in der burgenländischen Gemeinde Oberwart formierten, ist kein Zufall. War es doch der einzige Ort, in dem es in der Nachkriegszeit wieder zu einer größeren Ansiedlung von Roma gekommen war und Mechanismen der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Roma sichtbarer waren als in urbanen Gebieten. Bezeichnend dafür war auch die Wohnsituation. So war die sogenannte „Roma-Siedlung“ in Oberwart räumlich segregiert von der Oberwarter Ortschaft, aber auch die Schulkarrieren vieler Roma-Kinder bis Mitte der 1980er Jahre beschränkten sich vorwiegend auf Sonderschul- bzw. maximal Hauptschulabschlüsse. Viele Roma waren darauf angewiesen, als HilfsarbeiterInnen zu arbeiten, und beispielsweise am Arbeitsamt oder in Lokalen („Lokalverbot“) von Alltagsrassismus betroffen.[8]
Die Initiative der Gründung einer Interessensvertretung war auch eng mit dem „Gedenkjahr 1988“ verknüpft, in dem Bundeskanzler Franz Vranitzky den NS-Völkermord an den Roma ideell anerkannte. Die Entwicklungen dieser Jahre signalisierten die zunehmende Bewusstseinsbildung und Emanzipation der Roma in Österreich. So folgten auch alsbald weitere Organisationsgründungen: 1991 wurde in Wien unter der Führung von Rudolf Sarközi der Kulturverein österreichischer Roma gegründet. Im selben Jahr formierte sich auch der Verein Romano Centro, der die unterschiedlichen in Österreich vertretenen Roma-Gruppen repräsentiert (u.a. Lovara, Burgenland-Roma, Sinti, Kalderaš, Gurbet, Arlije).
Roma im Blickwinkel der internationalen Menschenrechtsagenda
Abgesehen von den innerösterreichischen Prozessen kam es in dieser Zeit auch international zu einer größeren Aufmerksamkeit für die Situation der Roma. Im Zuge der Auflösung des kommunistischen Staatenverbandes und der einsetzenden politischen Wende Anfang der 1990er Jahre wurden Roma als Sündenböcke stigmatisiert, an denen sich die Frustration der Bevölkerung über die mit der Transformation einhergehende wirtschaftliche Verschlechterung entlud. Berichte über pogromartige Übergriffe auf Roma in Rumänien oder Hasskriminalität und rassistische Gewalt gegen Roma in Bulgarien, der Tschechischen Republik, der Slowakei oder Ungarn häuften sich wie auch Berichte über Hassreden und Anti-Roma-Rhetorik von PolitikerInnen und Medien. Auch in Westeuropa kam es insbesondere gegen Roma-MigrantInnen aus Zentral- und Osteuropa zu einem Anstieg stigmatisierender Berichterstattungen und diskriminierender Hetze. Die negative öffentliche Meinung bediente sich alter Vorteile über die als solche bezeichneten „unsteten, wandernden, arbeitsscheuen, kriminellen und asozialen Zigeuner“. Diese Ereignisse rüttelten aber auch die Internationale Gemeinschaft wach. Zu offensichtlich waren die desaströsen Lebenswirklichkeiten vieler Roma, die strukturellen Diskriminierungen und Rassismen, die Verletzung fundamentaler Freiheiten und Menschenrechte und das Versagen vieler Staaten, die Rechte ihrer Roma-BürgerInnen zu schützen und zu garantieren. Auch auf der Ebene des Minderheitenschutzes zeigte sich, dass Roma in vielen Ländern im Vergleich zu anderen Sprach- oder ethnischen Minderheitengruppen schlechter gestellt oder nicht berücksichtigt waren.
Vor diesem Hintergrund waren es vor allem internationale Organisationen und europäische Institutionen mit dem Mandat zur Wahrung der Menschenrechte oder Umsetzung der Minderheitenrechte, die mit ihrer Arbeit auf die Problemlage hinwiesen und konkrete Empfehlungen für deren Verbesserung auf lokaler und nationaler Ebene lieferten. Aber auch der zunehmende Dialog zwischen StaatenvertreterInnen und der Roma-Zivilgesellschaft in internationalen Foren ermöglichten es, die Stimmen der Roma-Frauen und -Männer und deren Anliegen zu hören. Immer stärker zeigte sich an diesem Diskurs aber auch, dass es über den allgemeinen Minderheitenschutz hinaus auch eines generellen affirmativen Ansatzes bedarf, um gleiche Rechte und Chancen für Roma-BürgerInnen zu ermöglichen und strukturelle Diskriminierung und Rassismus abzubauen. Österreich, das über andere historische und geopolitische Voraussetzungen verfügte, hob sich zwar in vielerlei Hinsicht von diesen Beispielen in anderen Ländern ab. Unter anderem auch deshalb, weil die Roma-Community im europäischen Vergleich zahlenmäßig relativ klein ist, kämpften Roma hier aber mit anderen Herausforderungen. Dennoch gab es durchaus Parallelen hinsichtlich Alltagsrassismus, struktureller Diskriminierung im Bildungsbereich oder auch in der Verwehrung des Minderheitenschutzes.
Im März 1992 brachten VertreterInnen des Kulturvereins österreichischer Roma und des Vereins Roma Oberwart gemeinsam bei der Bundesregierung und beim Parlamentspräsidium die Petition zur Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe ein. Dabei war Rudolf Sarközi, Angehöriger der Burgenland-Roma, die zentrale Figur und treibende Kraft hinter dieser politischen Forderung. Aufgrund seines langjährigen Engagements innerhalb der SPÖ verfügte er auch über die notwendige politische Erfahrung und über Kenntnisse, diese Forderung voranzutreiben. Im Jahr darauf, am 16. Dezember 1993, erfolgte schließlich mit einstimmigem Beschluss des Hauptausschusses des Nationalrates die Anerkennung der österreichischen Roma als „Volksgruppe der Roma“ (dabei gilt Roma als Oberbegriff für die verschiedenen in Österreich lebenden autochthonen Untergruppen: Burgenland-Roma, Sinti, Lovara). Zwei Jahre später wurde dann der Volksgruppenbeirat der Roma mit acht BeirätInnen eingerichtet und somit waren die Roma anderen in Österreich anerkannten Minderheiten gleichgestellt. Der Roma-Beirat wies ein relativ ausgewogenes Geschlechterverhältnis auf, vor allem was die von den Roma-Vereinen nominierten VertreterInnen betraf. Gleichzeitig war er jedoch in seiner Komposition, Beschickung durch die Vereine und in seinem internen Kräfteverhältnis (von 1995 – 2016 war Rudolf Sarközi, Obmann des Kulturvereins, Vorsitzender des Beirates) und Abstimmungsverhalten wenig dynamisch, sondern orientierte sich meist an den Agenden der größeren Vereine, die auf die Unterstützung der großen Parteien zählen konnten.
Die Anerkennung als Volksgruppe war ein wichtiger Schritt für die gesellschaftspolitische Akzeptanz. Mit Anwendung des Volksgruppengesetzes eröffneten sich zudem viele neue Möglichkeiten: So wurde in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung (vor allem mit der Karl-Franzens-Universität Graz und mit Unterstützung des reichen Repertoires des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) die Sprache der Roma – vorerst das Burgenland-Roman – kodifiziert und Lernunterlagen für den schulischen und außerschulischen Bereich erstellt.[9] Im Burgenland wurde an einigen Schulen Romani als Freifach angeboten. Insgesamt kam es zu einem größeren wissenschaftlichen Interesse und zu Forschungen. Die Vertretungsorganisationen konnten aktiv Basisarbeit leisten und teils ihre Strukturen konsolidieren. Dazu zählen auch die wichtige Aufklärungs- und Informationsarbeit, das Veröffentlichen von Medien in der Minderheitensprache (Radio, Zeitungen in Romani/Romanes und auf Deutsch), Veranstaltungen zur Förderung von Kunst und Kultur (Musik, Literatur, Malerei etc.) und die Förderung des interkulturellen Dialogs sowie der Abbau von Vorurteilen und Rassismus. Es zeigte sich aber auch, dass das Volksgruppengesetz allein mit dem Fokus auf die Förderung und Wahrung der Sprache und Kultur nicht alle wichtigen Belange, vor allem die soziale Ungleichheit und Diskriminierung, mit denen Roma bis heute konfrontiert sind, abzudecken vermochte.
Während die Förderung von Kultur und Sprache sowie die Erinnerungs- und Gedenkarbeit, die Wiedergutmachung und die Anerkennung des NS-Völkermordes allen Vereinen ein wichtiges Anliegen war, gab es auch partikulare Schwerpunkte. So fokussierte sich der Kulturverein österreichischer Roma auf die Aufarbeitung der NS-Geschichte (u.a. durch die namentliche Erfassung der Roma-Holocaustopfer) sowie auf die politische Lobbyarbeit. Der Verein Roma in Oberwart führte eine sehr konkrete Basisarbeit vor Ort durch, organisierte Lernbetreuungen und Sprachförderungen für Kinder und bot arbeitsmarkpolitische Beratungen an. Das Romano Centro wiederum suchte den Austausch und die Vernetzung mit internationalen Romavertretungen, setzte sich für die Verbesserung der Bildungssituation der Romakinder in Wien ein und leistete Rechtsbeistand sowie Sozialarbeit. Zudem kam es zu einer Reihe von weiteren Initiativen und Vereinsgründungen. Beispielsweise war der Verein Ketani in Linz über einen längeren Zeitraum sehr aktiv. Dort engagierte sich insbesondere die Sintizza Rosa Martl, Tochter von Rosa Winter, die der NS-Verfolgung entkommen war, um die Anliegen der im Raum Linz lebenden Sinti zu vertreten. Manche der Initiativen waren von langer, manche von kürzerer Dauer.[10] Auch im Burgenland kam es in der Folge zur Neuorientierung und Entstehung weiterer Organisationen wie z.B. Roma-Service, einem Verein, der sich vor allem der Förderung und Wahrung der Sprache und Kultur der Burgenland-Roma widmet und die bessere Verankerung des Romani in den Medien (öffentliches Radio und Fernsehen) zum Ziel hat.
Das durch die Anerkennung bestärkte Engagement und die Emanzipationsbewegung der Roma in Österreich erlitten mit dem rassistisch motivierten Bombenattentat auf die Oberwarter Roma, das in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 vier Menschen das Leben kostete, – Erwin Horvath, Karl Horvath, Peter Sarközi und Josef Simon -, einen großen Rückschlag. So war das politische Auftreten der Roma nach wie vor etwas Neues und so manche fürchteten, dass die „neue Öffentlichkeit“ der Gemeinschaft einen großen Schaden, etwa durch rassistisch motivierte Gewalt, zufügen könnte. Das in der 2. Republik schwerste politisch motivierte Attentat katapultierte aber auch die Situation der Roma in Österreich ins öffentliche Bewusstsein und zwang die Politik, sich ihre Versäumnisse in Bezug auf die lokale diskriminierende Bildungs-, Arbeits- und Wohnpolitik einzugestehen.
Anlässlich der 27. Wiederkehr des Rohrbombenattentats vom 4. Februar 1995, bei dem vier Volksgruppenangehörige der Roma ermordet wurden, gedenken wir Erwin Horvath, Karl Horvath, Peter Sarközi und Josef Simon.
Gleichzeitig bestärkte dieser tragische Anschlag aber auch die zivilgesellschaftlichen Roma-AkteurInnen in ihrem Eintreten für die Rechte und für den Abbau von Vorurteilen mehr denn je. Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage, die Aufarbeitung und Anerkennung der NS-Verfolgung, die Errichtung von Mahnmalen und die Einführung offizieller Gedenktage sowie die Aufklärung und der Abbau von Vorurteilen in der Mehrheitsgesellschaft wurden als wichtige Ziele definiert, um eine nachhaltige Verbesserung der Situation der Roma zu erwirken und die bestehende Stigmatisierung der Mehrheitsgesellschaft abzubauen.
Mit Roma – für Roma: Umfassender Ansatz für Chancengleichheit
In den 1990er Jahren setzte sich auch auf internationaler Ebene die Forderung nach einem umfassenderen Ansatz zur Veränderung der Situation der Roma durch, der in erster Linie auf die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus abzielte wie auch auf gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Roma in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit und zur Herstellung von Chancengleichheit. Die Annahme des „Aktionsplanes zur Verbesserung der Situation der Roma und Sinti“ durch die Mitgliedstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Jahr 2003[11] wie auch die Dekade zur Inklusion der Roma 2005–2015[12] oder zuletzt der „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma“ (EU-Rahmen für nationale Roma-Strategien)[13] reflektieren diesen Ansatz und sind insofern auch Erfolge der beständigen Roma-Zivilgesellschaft, die sich auch international einbringt. Bezeichnend dafür ist auch der Slogan „Mit Roma – für Roma“, der die Erkenntnis zum Ausdruck bringt, dass erfolgreiche politische Maßnahmen auf gleichberechtigter Beteiligung von Roma-Frauen und -Männern beruhen.
Diese internationalen und europäischen Standards, vor allem des „EU-Rahmens für nationale Roma-Strategien“, bewirkten seit 2011 auch in Österreich ein verstärktes Tätigwerden im arbeitsmarktpolitischen, Sozial- und Bildungsbereich. Sind doch alle EU-Mitgliedsländer verpflichtet, nationale Roma-Strategien zu erstellen und die Zielvorgaben bis 2020 umzusetzen, wofür die EU unter anderem im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) auch finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. In diesem Rahmen haben auch einige Roma-Vertretungsorganisationen erfolgreiche Initiativen gesetzt, um Voraussetzungen für den Einstieg ins Berufsleben zu verbessern oder die Qualifzierung zu erhöhen, wie z.B. das Vermittlungsangebot des Projektes Thara Romani Zor! der Volkshilfe Wien oder der in Oberwart angesiedelten Initiative des Vereins Karika. Darunter fallen auch Maßnahmen, die im Bildungsbereich ansetzen, z.B. die von Romano Centro geleitete Roma-Schulmediation.
Auch wenn diese Entwicklung den Vertretungsorganisationen ermöglichte, die Tätigkeiten im arbeitsmarktpolitischen, Sozial- und Bildungsbereich zu vertiefen, so bleiben diese Initiativen doch projektgebunden und auf den Förderungszeitraum beschränkt. Manche Organisationen fordern daher eine Übernahme und Institutionalisierung von erfolgreichen Maßnahmen (z.B. Roma-Schulmediation, Roma-MuttersprachenlehrerInnen, gezielte Maßnahmen zur Bildungsförderung und Sensibilisierung der Behörden) sowie stärkere Einbindung und Verantwortung der maßgeblichen Stellen. So ist beispielsweise die „Strategie zur Fortführung der Inklusion der Roma in Österreich“[14] den lokalen Behörden und zuständigen Integrationsstellen kaum bekannt bzw. es werden auf lokaler Ebene, abgesehen von den Vertretungsorganisationen, keine gezielten Maßnahmen zur Umsetzung der Strategie durchgeführt. Es fehlt an gesicherten Daten bzw. umfassenden Analysen der Situation der Roma in Österreich. Die Politik bezieht sich nach wie vor auf die Erfahrungsberichte der Vertretungsorganisationen.
Abgesehen von Forderungen nach Chancengleichheit setzt sich in jüngster Vergangenheit vor allem auch von Seiten der Roma-Jugendbewegung (die sich um den Verein Romano Centro formiert hat) die Forderung nach einer offiziellen Anerkennung von Antiziganismus als spezielle Form des Rassismus und den daraus abzuleitenden Maßnahmen zur Bekämpfung des Antiziganismus durch[15]. Dies ist auch eine Antwort auf den öffentlichen Diskurs um die Roma-Migration, die sich vor allem im Zuge der EU-Erweiterung 2004 und 2007, aber auch in jüngster Zeit im Zuge der allgemeineren Migrationsdebatte wieder verschärfte und sich alter Stereotype bediente. Die Forderung nach einer breiten Anerkennung von und Maßnahmen gegen Antiziganismus wird von VertreterInnen der Romazivilgesellschaft auch auf europäischer Ebene eingefordert und erfährt in jüngster Zeit zunehmend Unterstützung.
So forderte das Europäische Parlament unter der Federführung der schwedischen Romni und Abgeordneten Soraya Post in einer Resolution zur Bekämpfung von Antiziganismus vom 25. Oktober 2017[16] die Staaten auf, ihre Gesellschaften für Antiziganismus zu sensibilisieren, um Marginalisierung und gesellschaftlichen Ausschluss von Roma effektiv zu bekämpfen.
Ähnlich scheint dieser Diskurs zur Bekämpfung von Antiziganismus auch die gegenwärtige Debatte um die Fortführung des „EU-Rahmens für nationale Roma-Strategien“ nach 2020 zu beeinflussen. So bezeichnet die EU-Grundrechteagentur Antiziganismus „als größtes Hindernis“, um ein Roma-Inklusion zu erreichen.[17] Auch AkteurInnen der Roma-Zivilgesellschaft unterstreichen, dass die bisherigen Maßnahmen und Bemühungen, die auf die Verbesserung der Situation der Roma abzielen, nur beschränkt erfolgreich waren, da sie die Überwindung von Stigmatisierungen in der Mehrheitsgesellschaft nicht berücksichtigten. In diesem Sinne sollen auch die Ergebnisse der europäischen ExpertInnen-Konferenz zum Antiziganismus, die das Bundeskanzleramt im Rahmen des Österreichischen EU-Vorsitzes am 27. November 2018 in Wien abgehalten hat, der Europäischen Kommission für den erweiterten Ansatz zur Roma-Inklusion Post-2020 dienen.[18]
2018 feierten die Roma in Österreich 25 Jahre Anerkennung als Volksgruppe. Auch wenn dieser wichtige Schritt im Vergleich zu anderen Gruppen in Österreich verspätet kam und erst erkämpft werden musste, so hat sich rückblickend in den letzten 25 Jahren doch sehr viel getan und die beteiligten AkteurInnen haben viele ihrer Forderungen erreicht und waren gestalterisch aktiv beteiligt, um diese umzusetzen.
Die gegenwärtige Roma-Bewegung zeigt eine große Dynamik und viel kreatives Potential. Dies ist einerseits auf die Beteiligung der jüngeren Generation, aber auch auf die vielen engagierten Roma-KünstlerInnen wie auch vieler Roma-Frauen und -Männer, die sich in anderen Bereichen professionalisiert haben und sich einbringen, sowie auf neue Allianzen in Österreich oder über Österreich hinaus zurückzuführen. Dies hat auch zu einer vielfältigen Repräsentation geführt, die weit über bestehende Vertretungsorganisationen hinausgeht. Prominentes Beispiel dafür ist der Musiker Harri Stojka mit seinen Aktivitäten im Rahmen des Vereins Voice of Diversity, der durch Vermittlung von Roma-Kunst und Kultur auch in Zusammenarbeit mit anderen Kunstschaffenden eine breite Öffentlichkeit erreichen konnte.
Oder die Schauspielerinnen Sandra und Simonida Selimović, die mit ihrer Theaterarbeit wie z.B. mit dem Stück „Roma Armee“ mit gängigen Klischees über Roma brechen, aber auch gängige Geschlechterrollen und Zuweisungen in Frage stellen. Wichtige Impulse kommen auch von der jüngeren Generation, die die Neuen Medien kreativ für die Mobilisierung ihrer Interessen zu nutzen weiß, wie etwa romblog.at, und oftmals über die Grenzen hinaus agiert. So hat etwa die Europäische Roma-Jugendbewegung ternYpe, die sich um die Initiative für einen Europäischen Gedenktag am 2. August für die Opfer des NS-Völkermordes gebildet hat, auch die österreichische Roma-Jugend inspiriert, neue Allianzen zu schmieden. Gemeinsam mit der Jüdischen HochschülerInnenschaft und VertreterInnen anderer Religionsgemeinschaften wie auch mit Familienangehörigen überlebender Roma gestalteten Roma-Jugendliche in den letzten Jahren am 2. August am Ceija-Stojka-Platz in Wien eine Gedenkfeier und forderten ein zentrales Mahnmal für den Völkermord an den Roma.
Es bedarf noch einiger Anstrengungen und eines mutigen politischen Willens, um gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle Roma in Österreich und Europa sicherzustellen. Die letzten drei Dekaden haben aber gezeigt, dass das bisherige Engagement Erfolge zeigt. Vor allem die immer größer werdende Zahl von kompetenten Roma-Frauen wie -Männern und der jungen Generation beweist, dass, wenn die Möglichkeiten gegeben sind, Roma bereit sind, sich erfolgreich für die Gemeinschaft wie auch die Gesellschaft insgesamt einzubringen.
Timeline
- Oktober 1984 Bundespräsident Kirchschläger enthüllt das Mahnmal für die Roma-Opfer, die in das Zwangsarbeitslager „Zigeunerlager“ Lackenbach interniert und von dort weiter deportiert wurden
- 1988 Ceija Stojka, Lovarkina und Auschwitz-Überlebende, veröffentlicht ihr Buch „Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin“
- 1988 Gedenkjahr Österreich, Bundeskanzler Franz Vranitzky erkennt offiziell den NS-Völkermord an den Roma an
- 1989 Gründung des Vereins Roma in Oberwart, Burgenland
- 1991 Gründung des Kulturvereins österreichischer Roma in Wien unter Federführung von Rudolf Sarközi
- 1991 Gründung des Vereines Romano Centro in Wien, der für alle in Österreich vertretenen Roma-Gruppen eintritt
- 1992 Der Kulturverein österreichischer Roma und der Oberwarter Verein Roma übermitteln eine Petition zur Anerkennung der Roma als Volksgruppe an die Mitglieder der Bundesregierung
- Dezember 1993 Anerkennung der Roma als 6. Volksgruppe in Österreich im Hauptausschuss des Nationalrates (erlangt am 23. Dezember 1993 Rechtskraft)
- In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 Rohrbomben-Attentat auf die Einwohner der Roma-Siedlung in Oberwart, Burgenland, das vier Menschen das Leben kostet September 1995 Konstituierung des Volksgruppenbeirates der Roma
- 1995 Erste Publikation in Roman: die Alphabetfibel „Amen Roman Pisinas“ („Wir schreiben Roman“)
- 2003 Die OSZE-Mitgliedstaaten beschließen den Aktionsplan zu Verbesserung der Lage der Roma und Sinti im OSZE-Raum
- 2011 Der Europäische Rat beschließt den EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020. Österreich verpflichtet sich, diese mit der österreichischen Strategie zur Fortführung der Inklusion der Roma in Österreich umzusetzen
- Februar – 17. Mai 2015 „Romane Thana – Orte der Roma und Sinti“: Ausstellung im Wien Museum (eine Kooperation von Romano Centro, Initiative Minderheiten, Landesmuseum Burgenland und Wien Museum)
Weblinks
Romane Thana – Orte der Roma und Sinti
Fact Sheets on Romani history, culture and language (in English and German)
Das Schicksal der europäischen Roma und Sinti während des Holocausts
Vereine und Initiativen
Verein Karika – Für Roma und Sinti
Kulturverein Österreichischer Roma
Phurdo Salzburg, Zentrum Roma-Sinti
Österreichische Strategie zur Inklusion der Roma
[romani] Projekt (Dokumentation zu den Varianten der Sprache der Roma)
Zur Menschenrechtssituation der Roma in Europa
Agentur der Europäischen Union für Grundrechte
I am a Romano Women – Regional Campaign (Video)
Member of European Parliament Soraya Post on Roma (Video) „Nobody wants to live like cattle
Fußnoten
[1] Im Text wird der Begriff Roma als Überbegriff für alle Gruppen, die in Österreich leben, verwendet. Bei Ereignissen, die eine spezifische Roma-Gruppe betreffen, etwa Lovara, Sinti, Burgenland-Roma etc., wird diese angegeben.
[2] Details siehe: ROMBASE – Didactically edited information on Roma.
[3] Zu den autochthonen Roma-Gruppen in Österreich zählen die Burgenland-Roma, Sinti und Lovara. Im Zuge der Migrationsbewegungen kamen seit den 1960er Jahren auch andere Gruppen, vor allem aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, nach Österreich – etwa die Kalderaš, Gurbet, Arlije und andere, die zahlenmäßig keine große Bedeutung haben. Für Details zu den bekannten Gruppen in Europa siehe Council of Europe: Pedagogical Fact Sheets on Roma History, Culture and Language.
[4] Karoly, Mirjam: Roma in Österreich. Zur Genese einer Minderheit, Diplomarbeit, Wien 1998.
[5] Siehe insbesondere die Dokumentarfilme von Melanie Spitta und Katrin Seybold: Schimpft uns nicht Zigeuner (1980) und Es ging Tag und Nacht, liebes Kind: Zigeuner (Sinti) in Auschwitz (1982).
[6] Die erste Monographie zu dem Thema erschien 1966 von einer Mitarbeiterin des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes. Siehe Steinmetz, Selma: Österreichs Zigeuner im NS-Staat. Europaverlag, Wien 1966.
[7] Wichtige Arbeit leisteten dabei Miriam Wiegele mit ihrer journalistischen Arbeit zu Roma in Oberwart, Claudia Mayerhofer mit ihrem historischen Abriss zur Geschichte der Roma in Österreich und mit dem Buch: Dorfzigeuner: Kultur und Geschichte der Burgenland-Roma von der Ersten Republik bis zur Gegenwart, Picus Verlag, Wien 1987 und vor allem Ursula Hemetek mit ihrer angewandten und langjährigen Forschungsarbeit zu Roma-Musik. Auf dem Gebiet der Sprachforschung hat vor allem Mozes F. Heinschink große Pionierarbeit geleistet.
[8] Siehe Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, edition lex liszt, Oberwart 2001.
[9]Siehe Halwachs, Dieter, W.: Das Österreichische Romani-Projekt, in: Romane Thana. Orte der Roma und Sinti, Wien Museum, Landesmuseum Burgenland, Initiative Minderheiten und Romano Centro (Hrsg), Czernin Verlag, Wien 2015, S. 190ff. Für Details siehe [romani] Projekt der Karl Franzens Universität Graz. Das Projekt und die Standardisierung des Burgenland-Romans wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Dieter W. Halwachs durchgeführt. Das größte Archiv zu Tondokumenten von Musikkultur und Erzähltradition der Roma befindet sich im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
[10] In den nächsten zwei Dekaden sollten etliche Vereine folgen, vor allem auch in Wien. Insgesamt gab es über 15 unterschiedliche Vereine, nicht alle konnten sich aber konsolidieren. Hier wird nur auf die gegenwärtig aktiven und größeren Vereine, die sich über die Jahre auch konsolidiert haben, eingegangen.
[11] OSZE-Ministerratsbeschluss MC.DEC/3/03/: Aktionsplan zur Verbesserung der Lage der Roma im OSZE-Gebiet, Maastricht 2003.
[12] Details zur Dekade zur Inklusion der Roma und zur Folgeinitative Roma-Integration 2020
[13]Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020, Brüssel, 5.4.2011.
[14] Details zur Roma-Strategie in Österreich.
[15] Allianz gegen Antiziganismus: Antiziganismus – Grundlagenpapier. Juni 2017.
In Österreich hat Romano Centro 2015 und 2017 Falldokumentationen zu Antiziganismus veröffentlicht. Antiziganimus in Österreich – Falldokumentation 2015–2017. Wien 2017.
[17] EU Fundamental Rights Agency: A persisting concern: anti-Gypsyism as a barrier to Roma inclusion, April 2018.
[18] Siehe: Expertinnen- und Expertenkonferenz zu Antiziganismus
Mirjam Karoly, Politologin, leitete bis August 2017 die OSZE-Kontaktstelle für Roma-und-Sinti-Fragen beim Büro für Menschenrechte und Demokratisierung in Warschau; stellvertretende Vorsitzende des Beirates der Roma in Österreich, Vorstandsmitglied von Romano Centro und des European Roma Rights Center.