#132/2024 GASTARBAJTERI – 60 Jahre Arbeitsmigration


Editorial #132

„Anfang der 1960er Jahre erzeugte die wirtschaftliche Hochkonjunktur in Westeuropa einen Bedarf an Arbeitskräften, der durch „Gastarbeiter“ aus wirtschaftsschwachen Ländern wie Jugoslawien und der Türkei gedeckt werden sollte. So begann die Geschichte einer besonderen Form der Migration im Nachkriegseuropa, die von der ursprünglichen Vorstellung, Arbeiter*innen je nach Bedarf stets durch neue zu ersetzen, zunehmend abwich. Heute (…) beschäftigt diese Migration nicht nur die Wirtschaft. Politik, Medien, sozialwissenschaftliche Forschung und Kunst haben in ihr ein Thema gefunden, das täglich an Aktualität gewinnt. Weitgehend unsichtbar geblieben sind jedoch die Perspektiven der MigrantInnen selbst. In den dominanten öffentlichen Diskursen und medialen Bildern fungieren sie nach wie vor hauptsächlich als Objekte der Repräsentation, während sie als Subjekte meist marginalisiert bleiben.“1

Vor zwanzig Jahren zeigte die Initiative Minderheiten in Kooperation mit dem Wien Museum die Ausstellung „gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration“. Vierzig Jahre zuvor war das „Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Türkischen Republik über die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte“ unterzeichnet worden. Die Ausstellung bildete den ersten Versuch, die Geschichte dieser historisch neuen Form der Migration aus der Perspektive der Arbeitsmigrant*innen nachzuzeichnen. „Gastarbajteri“ erzählte ausgehend von elf exemplarischen Orten und Zeitpunkten die Geschichte der Arbeitsmigration von 1964 bis 2014.

Cemalettin Efe, der Ideengeber der Ausstellung, war im Jahr 1973 im Kindesalter nach Österreich gekommen. In Erinnerung an das Wohnen in Baracken, die erlebte Verachtung und die verweigerten Rechte unterstrich er die Notwendigkeit, das Leben der Arbeitsmigrant*innen als Teil der Geschichte Österreichs ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben.

Der Titel „gastarbajteri“, das serbisch-kroatische Lehnwort für „Gastarbeiter“, sollte den Bottom-Up-Charakter des Projekts unterstreichen, das von der Idee bis zur endgültigen Realisierung auf allen Ebenen von migrantischen Akteur*innen mitgetragen wurde.

Die Ausstellung stieß auf großes Interesse, auch bei Zugewanderten der 2. und 3. Generation. Allein 422 Führungen illustrierten das Interesse des Publikums. Die Schau zeichne „die Geschichte einer Illusion“ nach, schrieb Samo Kobenter in Der Standard und Vlatka Frketić sprach in Malmoe von den „ersten Bildern nach 40 Jahren“, und einem Gespenst, das in Wien umgeht, „das Gespenst des Stolzes, sich selbst zu sehen“.

Anlässlich des 60. Jahres der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei dokumentieren wir in diesem Heft vier Stationen der Ausstellung:

Narmanli Han, die Anwerbestelle in Istanbul, die 1964 von der österreichischen Wirtschaftskammer errichtet wurde, markiert den Beginn der Arbeitsmigration. Die Arbeitersiedlung Walddörfl in Ternitz widmet sich dem Thema Wohnen. Die Station Fischfabrik C. Warhanek, die aufgrund ihrer prekären Arbeitsverhältnisse eine der ersten legalen Beschäftigungsmöglichkeiten für Migrantinnen bot, steht für Frauenarbeitsmigration. Adatepe schließlich, ein kleines Dorf in der Marmararegion der Türkei, aus dem mehr als die Hälfte der Einwohner*innen nach Österreich emigriert ist, thematisiert Herkunft und Rückkehr.

Die Dokumentation der Ausstellung „gastarbajteri“ aus dem Jahr 2004, in diesem Heft ausschnittsweise dargestellt, wird von zwei aktuellen Textbeitägen begleitet:

Rückblickend auf sechs Jahrzehnte der Arbeitsmigration spricht Hakan Gürses von einer „Geschichte der Ausblendungen“, geprägt von Stereotypen, Mythen und Halbwissen. Vlatka Frketić schreibt gegen genau diese Zuschreibungen, um die eigene Erinnerungskultur aufzubauen. Im Mittelpunkt ihres literarischen Texts „Die falsche Zukunft“ stehen Erinnerungen als „Gastarbeiterkind“.

Mit den Worten von Kamil Biçer, der im Jahr 1967 als „Gastarbeiter“ aus Antakya nach Wien kam, wünsche ich einen informativen Rückblick auf die Geschichte der „Gastarbeit“:

„Ob Türken oder Jugoslawen, die Gastarbeiter haben das Land aufgebaut. Das muss man feiern, das ist ja die Geschichte von Österreich!“

Gamze Ongan, Chefredakteurin


1 Aus dem Ausstellungstext „gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration“, Jänner bis April 2004 im Wien Museum, kuratiert von: Cornelia Kogoj und Sylvia Mattl-Wurm, künstlerische Konzeption und Gestaltung: gangart (Simonetta Ferfoglia, Heinrich Pichler).

www.gastarbajteri.at


Wir bedanken uns bei der AK Wien für die Mitfinanzierung dieses Themenheftes.


Im Gedenken an Herman Hemetek – von Petar Tyran

Stimmlage: Doppelbindung und Doppelstandard – von Hakan Gürses

Für einen solidarischen Kampf gegen Antisemitismus – von Isabel Frey

Musik: Longa Vienna – Marwan Abado & Ensemble – von Hakan Gürses


STIMME Nr. 132.pdf


Gestaltung: Fatih Aydoğdu

Lektorat: Daniel Müller


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