Die aktuelle Ausgabe der STIMME #133/24 Die anderen Bilder – Fotografische Spuren der Minderheitengeschichte

Die Fotografie galt aufgrund ihres vermeintlich realitätsnahen Abbildungscharakters lange Zeit als Medium der Wahrheit. Allerdings ist dieser Wirklichkeitsanspruch mittlerweile stark hinterfragt. Schon die Entscheidung, wer in welchem Kontext und wie ins Bild gesetzt oder ausgelassen wird, kann eine Verzerrung der Realität bewirken. Fotografien wurden schließlich immer schon zu spezifischen Zwecken hergestellt – zur Schaffung von Bedeutungen und Herbeiführung bestimmter Wirkungen.

Seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert hat sich das fotografische Medium zu einem zentralen Instrument der Selbstdokumentation entwickelt. War das Fotografieren und Fotografiert-Werden anfangs auf bürgerliche Schichten beschränkt, wurde es im Verlauf des 20. Jahrhunderts – durch die zunehmende Vereinfachung und Verbilligung der Technik – auch von breiteren sozialen Schichten als visuelles Mittel der Selbstermächtigung genutzt: zur Dokumentation, für eigene Identitätsentwürfe und als Erinnerungsmedium.

Diese positive Dimension der Fotografie geht jedoch von Beginn an mit einer anderen, repressiven Funktion einher. Sie dient ebenso der visuellen Kontrolle und Abwertung, indem unterschiedliche soziale und ethnische Gruppen mittels fotografischer Darstellungen typologisiert, abgewertet und stereotyp dargestellt werden. Vorstellungen des Eigenen und des Anderen, die Fremd- und Selbstdarstellung sind untrennbar mit der Geschichte des fotografischen Mediums verknüpft – somit auch die Kämpfe um Macht, Sichtbarkeit und Identität.

In diesem Themenheft widmen wir uns der historischen und gegenwärtigen Darstellung und Selbstdarstellung von Minderheiten durch Fotografie sowie ihren sozialen Gebrauchsweisen. Wir nähern uns dem Thema anhand von vier Textbeiträgen und drei künstlerischen Positionen an.

Wir sprachen mit dem Fotohistoriker Anton Holzer über die fotografiegeschichtliche Forschung zu Minderheiten und fragten ihn, welche Bilder die Differenz verfestigen und wie heute mit historischen Fotografien umzugehen ist, die in Gewaltkontexten entstanden.

Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener stellt am Beispiel der dänischen Aktivistengruppe „Befreiungsfront der Schwulen“ dar, wie „eigene“ Bilder selbst produziert, verbreitet und tradiert werden können – für Sichtbarkeit und Anerkennung und gegen visuelle Fremdzuschreibung.

In gängigen Fotomotiven sind Migrant*innen selten als handelnde Subjekte zu sehen. Die Historikerin Vida Bakondy beschreibt und zeigt die anderen Bilder – entstanden aus Begegnungen auf Augenhöhe – am Beispiel der Aufnahmen des jugoslawischen Fotoreporters Jovan Ritopečki in Österreich.

Volker Schönwiese ist Gründer von bidok, der Plattform für Informations- und Wissensvermittlung zu Inklusion und Behinderung. Für uns analysiert er die bildlichen Inszenierungen von behinderten Menschen in Mainstreammedien und stellt ihnen die von behinderten Aktivist*innen selbstgemachten Bilder entgegen.

Belinda Kazeem-Kamiński setzt sich künstlerisch mit der kolonialen Vergangenheit und den historisch gewachsenen Sichtbarkeitsregimen auseinander. Wir zeigen ihre Fotoinstallation Strike a Pose, mit der die Künstlerin in rassistische Blickregime interveniert.

Auch für die Filmemacherin und Fotografin Lisl Ponger ist die Produktion von Kunst stets ein politischer Akt. Parallel zu ihren inszenierten Fotoarbeiten dokumentiert sie seit Jahr- zehnten Proteste der Zivilgesellschaft. In diesem Heft zu sehen: There be Dragons und Bilder der Demonstrationen gegen Schwarz-Blau aus den Jahren 2000 und 2001.

Hıdır Emir und Mehmet Emir verbindet eine gemeinsame Geschichte in Wien, die sie auf jeweils eigene Art dokumentiert haben. Der Vater fotografierte an Wochenenden tausende von Arbeitsmigrant*innen in ihrer Freizeit und ließ sich selbst vor prächtigen Kulissen Wiens fotografieren. Der Sohn wiederum fotografierte den Vater und seine Freunde abends nach der Arbeit im Barackenheim. Wir zeigen eine Auswahl dieser Fotos.

Die Idee zu diesem Themenheft entstand in Kooperation mit dem Forschungsprojekt von Vida Bakondy „Visualisierung migrantischer Lebenswelten“. (Gefördert durch den FWF (Projektnummer T 1083)

Wir wünschen anregende Lektüre, neue Sichtweisen und viele einzigartige Momente im neuen Jahr!

Gamze Ongan und Vida Bakondy


Gestaltung: Fatih Aydoğdu

Lektorat: Daniel Müller


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